Aus Gesprächen mit Aktivist*innen
Medizinische Hilfe und soziale Proteste in Bagdad
Aktuell finden in vielen Metropolen der Welt Proteste und Aufstände statt. Auch in Bagdad erheben sich große Teile der Bevölkerung gegen Korruption und für mehr soziale und politische Rechte. Café Libertad Kollektiv unterstützt queerfeministische Strukturen und Demosanitäter*innen vor Ort mit 2000,- Euro aus Fördergeldern.
Auf den Demonstrationen wird die Auflösung sämtlicher bewaffneter Fraktionen und Milizen im Irak gefordert. Auch die Aktivierung eines Gesetzes zum Schutz der individuellen Freiheit, welches auch die Rechte von Frauen und LGBT* einschließen soll. Zudem wird eine Änderung des Wahlgesetzes gefordert, um die Macht der regierenden Baath-Partei zu beschränken. Bisher ist es anderen Parteien oder Organisation untersagt, an Wahlen teilzunehmen oder Gesetze im Parlament einzubringen, die der Baath-Partei schaden könnten oder sich gegen deren Interessen richten.
Unter den Demonstrant*innen sind sämtliche gesellschaftlichen Spektren und Religionen vertreten. Neben Atheist*innen, LGBT*Aktivist*innen und Feminist*innen auch schiitisch, sunnitisch, christlich oder jezidisch orientierte Menschen. Die Proteste sind sehr vielfältig und bunt, quer durch alle Gesellschaftsschichten.
Auf dem umkämpften Tahir-Platz befinden sich ganze Familien mit ihren Kindern. Einige unterstützen die Demonstrant*innen durch Essensversorgung, andere Aktivist*innen schließen sich durch sonstige selbstorganisierte Praktiken an. Zum Aktionsspektrum gehören auch Kunstaktionen wie Malerei, Musik und Tanz.
Repressionen und staatliche Gewalt
Der Grad der staatlichen Repression ist außerordentlich hoch. Regelmäßig gibt es große Festnahmewellen, die auch Demosanitäter*innen mit einschließen. Demonstrant*innen und freiwillige Sanitäter*innen werden als Terrorist*innen angeklagt, was im Irak mit lebenslänglicher Haft als Mindeststrafe verfolgt wird.
Ob auch die Todesstrafe, die bei IS-Prozessen angewendet wurde, gefordert wird, bleibt noch abzuwarten, wird aber von Beobachter*innen vor Ort befürchtet. Oft werden die Festgenommenen von der Polizei als IS- oder Al Qaida-Anhänger*innen vorgeführt, um die Aktivist*innen weiter zu verunsichern und Ängste zu schüren. Mindestens 1000 Menschen wurden bisher festgenommen. Einigen ist auch die Flucht vor den Festnahmen gelungen und die Betroffenen versuchen nun, das Land zu verlassen. Das europäische Grenzregime erschwert dabei sichere Fluchtwege und stützt somit die politische Verfolgung.
Beteiligt an der Repression sind auch Milizen und Anhänger*innen der verschiedenen an der politischen Macht beteiligten Gruppen. Die vom Iran subventionierte schiitische Miliz (Hashd Al-Shabi) hat Demonstrant*innen nach Angaben von Aktivist*innen entführt und getötet. Sie ist bekannt dafür, auch im Namen des Kampfes gegen den IS zahlreiche Kriegsverbrechen begangen zu haben. Es gibt schon seit langem Proteste im gesamtem Land gegen die Macht des Millizsystems, damit verbunden leider aber auch sehr viele Morde und Angriffe auf Zivilist*innen.
Teile des irakischen Militärs sind wiederum teilweise auch auf dem Tahrir-Platz, um Demonstrant*innen und deren Rechte vor der Polizei und den Hashd Al-Shabi-Milizen zu schützen. Diese Militärangehörigen kämpfen zwar offiziell nicht gegen die Polizei, sind aber genauso Opfer der polizeilichen Angriffe. Die Lage ist sehr unübersichtlich und die Absurdität solcher Situationen wird von der irakischen Regierung hingenommen, um die Proteste zu unterdrücken. Teilweise scheint nach Beobachter*innen die irakische Regierung auch die Kontrolle über Repressionsorgane verloren zu haben.
Tote und Verletzte bei Protesten durch den Einsatz von Kriegswaffen
Bisher wurden 8 Mediziner*Innen getötet, alleine am 11. November vier Ärzte, die gezielt ermordet wurden, um Ärzt'innen und Notfallsanitäter*innen einzuschüchtern und abzuschrecken. Damit soll der Zusammenbruch der medizinischen Versorgung von Demonstrant*innen erreicht werden. Viele Sanitäter*innen haben daraufhin vorerst den Platz verlassen. Seit dem Anfang der Proteste Anfang Oktober bis Anfang November sind nach Angaben von Sanitäter*innen vor Ort etwa 310 Menschen gestorben, darunter ein achtjähriges Mädchen. Zudem gab es über 8000 Verletzte, die behandelt werden mussten.
Die irakische Anti-Riot-Polizei verwendet laut Amnesty International verbotene Tränengasbomben, die zu mindestens 5 Todesfällen und schweren Verletzungen geführt haben. Die Tränengasbomben wiegen etwa das 10fache von herkömmlichen Tränengas-Granaten und sind für militärische Zwecke entwickelt worden. Laut Augenzeug*innen wurden diese Geschosse aus nächster Nähe auf Menschen abgefeuert. Grausame Bilder von Opfern, noch mit Gasgranaten im Kopf, belegen diese Angaben. 1)
Dennoch sind die Aktivist*innen und Unterstützer*innen weiterhin entschlossen, auf dem Platz zu bleiben, um weiter gegen Korruption, für mehr Rechte und die Absetzung der Regierung zu kämpfen.
Doch die irakische Anti-Riot-Polizei ist versucht weiterhin, die Proteste zu beenden und es droht eine blutige Niederschlagung. Ein Informant hat veröffentlicht, dass drei hochrangige Politiker bei einem Treffen einen Einsatzplan mit massivem Schusswaffen-Einsatz entwickelt haben. 2)
Auch der Iran wird alles tun, um die jetzige Regierung an der Macht zu halten, um dadurch den Einfluss im Irak zu sichern und die Öl-Ressourcen zu kontrollieren. Zwar spielt der Iran momentan die Hauptrolle als äußere Macht bei der Niederschlagung der Proteste, aber dies heißt nicht, dass andere Staaten und Europa von ihrer Verantwortung befreit wären. Auch westliche Staaten stützen die Regierung, vordergründig im Kampf gegen den IS, um Waffengeschäfte und Investitionen zu sichern.
Die Proteste und Forderungen der Demonstrant*innen von Bagdad sollten von internationalen Solidaritäts- und Protestbewegungen stärker aufgegriffen werden und die emanzipatorischen Forderungen nach Rechten und Gleichberechtigung unterstützt und verteidigt werden. Noch ist unklar, ob die Proteste ihren emanzipatorischen Charakter beibehalten. Aber aktuell sind sie ein weiteres hoffnungsvolles Licht in der Serie von Aufständen, die rund um den Globus stattfinden.
Die Sprache der Solidarität
Es ist notwendig, soziale Proteste in Beirut, Santiago de Chile, Hong Kong oder Bagdad nicht isoliert zu betrachten. Die Bewegungen verfolgen unterschiedliche Schwerpunkte zwischen Forderungen nach Minderheits- und Bürgerrechten und sozialer Gerechtigkeit und Teilhabe. Ihre Gemeinsamkeit ist der tiefgreifende Vertrauensverlust in politische Institutionen und Organe der neoliberalen Gegenwart.
Eine durch Digitalisierung gut informierte, sozial organisierte und selbstbewusste Generation lässt sich alte patriarchale Methoden des Machterhalts und die leeren Versprechungen der Globalisierung zunehmend nicht mehr bieten und begehrt auf. Machen wir uns nichts vor: Die Krise ist ein Teil des Systems. Viele der gegenwärtigen Proteste und Aufstände werden scheitern. Aber die Ausschläge krisenhafter Zyklen werden größer und ihre Taktung enger.
Die Widersprüche im Rahmen der neoliberalen Globalisierung nehmen unausweichlich weiter zu. Auch grüne und populistische Kapitalismusmodelle bieten keine sozialen Antworten, sondern vertiefen lediglich die zugrundeliegenden Widersprüche. Die allergrößte Armut mag in einigen Regionen abgenommen haben, doch die Schere zwischen Arm und Reich wird im globalen Maßstab immer größer.
In vielen Regionen der Welt sind zudem junge Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe und Möglichkeiten abgeschnitten. Das zentrale Versprechen des Kapitalismus wird immer seltener eingelöst. Der bereits zu Verelendung führenden unsichtbaren Hand des Marktes wurde im Neoliberalismus eine ordnende Kraft, die Zwänge und Regeln der Globalisierung, hinzugefügt.
In Chile führte dies zu Protesten durch die Verarmung der Mittelschicht. Auch fehlender Zugang zu Bildung und die in der Gesellschaft verankerte patriarchale Gewalt führten zu Massenprotesten. In Hong Kong fordern Protestierende mehr Bürgerrechte und soziale Sicherheiten, die nicht nur im Staatskapitalismus chinesischer Prägung als Störung des Betriebsablaufes wahrgenommen werden, sondern auch im hegemonialen Kapitalismusmodell der Globalisierung, welches als alternativlos repräsentiert wird.
Die Zukunft erscheint in dystopischen Bildern. Regierungen im Geist einer alten Ordnung, populistische Bewegungen und Männerbünde, die nach der Macht greifen, Armutsregime und zunehmende Folgen des Klimawandels.
Doch emanzipatorische Bewegungen lassen in ihren Protesten und Forderungen neue Bilder eines gesellschaftlichen Zusammenlebens aufscheinen. Eine Welt jenseits berechnender Verwertungslogik, die von neuen transnationalen Gedanken der Solidarität geprägt und inspiriert ist und die Globalisierung der Aufstände als Ausdruck und gemeinsame Sprache hat. Wir müssen lernen, sie zu hören und zu verstehen, um unsere Geschichte selbst zu schreiben.
Stand 11.11.2019
N.N.
Infos zur Lage vor Ort aus Gesprächen mit Aktivist*innen
1) Militärexperten von Amnesty International haben ermittelt, dass die Tränengasbomben vom Typ M99, 40mm von der Firma Sloboda Cacak in Serbien hergestellt und über die Firmen Balkan Novotek und Yugoimport exportiert wurden. Zudem wurden LV 40mm Granaten mit dem Tränengas M651 sowie Rauchgranaten M713 von der iranischen Defense Industries Organization – DIO zwischen dem 25.- 29. Oktober eingesetzt. Die Langzeitfolgen dieser Vergiftungen durch die Rauchbomben und Tränengas.Granaten sind noch nicht abzusehen. Mittlerweile sind auch etliche Vögel und Katzen durch die Kampfgas Attacken gestorben.
https://www.amnesty.org/en/latest/news/2019/10/iraq-gruesome-string-of-fatalities-as-new-tear-gas-grenades-pierce-protesters-skulls/
2) Es handelt sich um Mukhtar Al Sdesdar (Commandant der Hashd Al Shabi – Peace Brigade), Abu Mehedi Mohends (irakisch/iranischer Parlamentarier) und Hade Al Amere (Mitglied der Baath-Partei und ehemals zuständig für das Transportwesen und Kommunikation). Nach diesem Plan zur militärischen Niederschlagung der Proteste soll eine auf den Tahir-Platz führende Brücke der Republik geöffnet werden, damit die Demonstrant*Innen die Brücke betreten und dann das Feuer auf die ungeschützten Demonstrant*innen eröffnet werden kann. Was nach einem schlechtem Actionfilm-Drehbuch klingt, ist laut Beobachter*innen nicht ganz abwegig.