Positionspapier von Café Libertad Kollektiv
Kritische Perspektiven auf die EU-Verordnung zu entwaldungsfreien Lieferketten
Mitte 2023 ist in der EU eine neue Verordnung zur Einhaltung entwaldungsfreier Lieferketten in Kraft getreten, ihre Umsetzung wird in 2025 verpflichtend. Sie besagt, dass bestimmte Rohstoffe (Holz, Kaffee, Soja, Palmöl, Kakao, Rinder und Naturkautschuk) bzw. aus ihnen hergestellte Produkte nicht mehr in den europäischen Wirtschaftsraum importiert werden dürfen, sofern zu ihrer Herstellung Waldflächen gerodet worden sind. Ferner zielt sie darauf ab, dass die Herstellung im jeweiligen nationalstaatlichen Rahmen rechtskonform erfolgt, wodurch neben weiteren Umweltschutzaspekten gerade auch die Einhaltung von Minderheiten- und Menschenrechten besser gewährleistet werden soll.
Dazu betont die Verordnung einleitend, lokale und insbesondere indigene Gemeinschaften als vulnerable Gruppen zu betrachten, die besonders schutzbedürftig und entsprechend zu berücksichtigen sind. Wie das genau aussehen soll, bleibt jedoch unklar. Stattdessen lassen die Vorgaben erhebliche Gefährdungen für kleinbäuerliche indigene Produzent:innen entsprechender Güter befürchten – von finanziellen Härten durch den Mehraufwand über die Verschärfung bestehender Landkonflikte bis hin zu einer Verunmöglichung des Exports und damit ein Untergraben ihrer Handlungsfähigkeit und Existenzgrundlage.
Wir als Café Libertad Kollektiv äußern unsere Bedenken und Befürchtungen dabei aus der Perspektive eines nicht-gewinnorientierten Kollektivbetriebs, der nach Prinzipen fairen bzw. solidarischen Handels den Kaffee kleinbäuerlicher, oftmals indigener Kooperativen aus diversen lateinamerikanischen Ländern (vor allem aus Mexiko/Chiapas, aber auch aus Honduras, Costa Rica oder Kolumbien) direkt importiert und in Europa vertreibt. Sozial-ökologische Kriterien sind uns im Projektrahmen sehr wichtig. Der Aufbau solidarischer Beziehungen, die Perspektiven und die Selbstorganisierung unserer Kooperationspartner:innen sowie die Erfahrungen indigener Gemeinschaften und ihre Kämpfe um Autonomie sind zentrale Bezugspunkte unseres Handelns, um der kapitalistischen Ausbeutung und Zerstörung von Mensch und Umwelt, der Fortschreibung kolonial gewachsener Abhängigkeitsverhältnisse und den Asymmetrien auf dem Weltmarkt etwas entgegenzusetzen.
Nach unserer Einschätzung geht die EU-Verordnung an den Realitäten indigener Produzent:innen vorbei und gefährdet sie in ihrer Existenz, untergräbt ihre Selbstorganisierung und Widerständigkeit. Als von außen auferlegter Verwaltungsakt arbeitet sie einer Reproduktion und Verschärfung bestehender Ungleichheiten zu, anstatt dafür verantwortliche Strukturen infrage zu stellen. [1] Diese Sichtweise soll in fünf Punkten entwickelt werden:
I. Anforderungen ignorieren Realitäten indigener Kleinbäuer:innen
Bereits der Mehraufwand durch die Nachweispflicht bedeutet für kleinbäuerliche und indigene Produzent:innen eine erhebliche Belastung und kann ihre Ressourcen übersteigen. Für diese Einschätzung lohnt zunächst ein Blick auf die Realitäten der Bio-Zertifizierung: Viele (indigene) Kooperativen gehen für ihren Kaffee diesen Weg nicht nur, weil sie dadurch bessere Preise auf dem Weltmarkt erzielen, sondern auch weil ein ökologisch-nachhaltiger Anbau zu ihrem Selbstverständnis gehört. Zugleich ist ihnen das Erreichen einer Zertifizierung nicht immer möglich, denn der Prozess dauert lange und ist – gerade aus kleinbäuerlicher Perspektive – mit erheblichen Kosten verbunden.
Die bürokratischen Anforderungen führen auch immer wieder dazu, dass bestimmte Chargen bio-zertifizierten Rohkaffees (oder gar eine gesamte Ernte) ihren Bio-Status wieder verlieren, weil die für die Verarbeitung und den Vertrieb erforderlichen Nachweisketten und Termine nicht eingehalten werden können – sei es zum Beispiel aufgrund fehlender Internetverbindungen, nur schwach ausgebauter eigener Verwaltungsstrukturen oder dadurch, dass unberechenbare Bedingungen vor Ort zu Irregularitäten führen, gerade in Konfliktregionen. So kommt es immer wieder auch vor, dass Kaffee, der eigentlich Bio-Qualität besitzt, nur als nicht-bio verkauft bzw. exportiert werden kann, was wiederum – trotz bereits entstandener Zusatzkosten – den Preis drückt. Es ist völlig absehbar, dass die in der EU-Verordnung zur Pflicht erhobenen Geolokalisierung der Anbauflächen ähnliche Probleme nach sich ziehen wird.
II. Existenzgefährdende Einschränkung nachhaltiger Absatzmöglichkeiten
Während aber bei einer nicht gelingenden Bio-Zertifizierung immerhin noch die Möglichkeit bleibt, Rohkaffee als Nicht-Bio-Produkt überall hin zu verkaufen, gibt es diese Option beim Nachweis entwaldungsfreier Lieferketten nicht mehr. Sollte dieser (mal) nicht gelingen, würden die Wege eines Exports nach Europa komplett wegbrechen. Etablierte Handelsbeziehungen, die den Produzent:innen – wie in Kontexten fairen und solidarischen Handels üblich – einen guten Preis über Weltmarktniveau garantieren, können dann nicht fortgeführt werden.
In diesem Fall wären die Produzent:innen gänzlich darauf zurückgeworfen, ihre Güter auf dem freien Markt unter Wettbewerbsbedingungen zu veräußern, sich also den dortigen Konkurrenzen, der Marktmacht großer Konzerne und willkürlichen Preisschwankungen auszusetzen. Dies würde die Ausgangslage von (indigenen) Kooperativen und Kleinbäuer:innen nachhaltig verschlechtern, ihre Subsistenz und Selbstorganisierung mindestens schwächen.
III. Vorteile für das Privateigentum, Nachteile für kollektive Nutzungsformen
Ebenso bedeutet die Nachweispflicht bei gemeinschaftlichen oder umkämpften Besitzverhältnissen eine fundamentale Existenzgefährdung. Großgrundbesitzer:innen verfügen in der Regel über Eigentumstitel für die von ihnen im historischen Prozess gewaltvoll einverleibten Anbauflächen. Die Eigentumstitel sichern ihnen Rechtsansprüche an den Territorien und sie werden kaum Probleme haben, Nachweise darüber zu führen. Bei indigenen Produzent:innen hingegen kann dies nicht einfach vorausgesetzt werden. Häufig ist eher das Gegenteil der Fall, sofern sie in gewachsenen kommunalen Strukturen leben und produzieren, die noch nicht vergleichbar von Staatlichkeit und Privateigentum durchdrungen sind und sich dadurch auch einer klaren Ausweisung von Anbauflächen entziehen.
Ebenso liegen vielfach Verhältnisse vor, in denen sich indigene Produzent:innen den Grund und Boden vor dem Hintergrund von Armutsmigration und/oder von historisch aus dem Kolonialismus hervorgegangenen Landkonflikten angeeignet haben, ohne dass sie dazu einen offiziell anerkannten Status erworben hätten oder überhaupt hätten erwerben können. Die zapatistische Selbstorganisierung in den autonomen Gemeinden in Chiapas, die Konflikte im Grenzgebiet zwischen Honduras und El Salvador oder die Landlosenbewegung in Brasilien sind Beispiele dafür. Werden hier nun Nachweispflichten eingefordert, werden kollektive Ansätze der Selbstorganisierung und Kämpfe um Selbstermächtigung, gegen Armut, kapitalistische Landnahme und das Fortwirken der Kolonialerbschaft zugunsten durchregulierter Verhältnisse und des Privateigentums ausgegrenzt und stigmatisiert.
IV. Verschärfung von Landkonflikten und Repression
Wenn die Verordnung zudem auf die Kooperation mit den Regierungen in den Erzeugerländern setzt, zeigt der beispielhafte Blick auf Mexiko, wie sehr dies ebenfalls mit Skepsis zu betrachten ist. Im vorliegenden Zusammenhang ist gerade das „Sembrando Vida“ – „Leben säen“ – titulierte Aufforstungs- und Sozialprogramm der mexikanischen Regierung interessant. Nicht selten hat es offenbar dazu geführt, dass zunächst weitere Flächen gerodet wurden, um anschließend in den Genuss von Subventionen und Sozialleistungen zu kommen. Demgegenüber sind positive Effekte einer Aufforstung kaum empirisch belegt. Klar sollte aber sein, dass Neuanpflanzungen keine ursprünglich gewachsenen Wälder ersetzen können. Zudem ist ein als Besitz anerkannter Grund und Boden eine zentrale Voraussetzung dafür, um an dem Programm teilzunehmen. Wie indigene Aktivist:innen berichten, sind dadurch neue Begehrlichkeiten geweckt worden, Ländereien als Privateigentum zu deklarieren, so dass Landkonflikte sich weiter verschärfen. Ähnliches ist auch durch die mit der EU-Verordnung verbundene Geolokalisierung zu befürchten. Hinzu kommt, dass der staatliche Zugriff auf eine solche Kartierung ein weiteres Instrument zur Überwachung widerständiger Gemeinden, die jetzt schon von starker Repression betroffen sind, bedeuten würde.
Zum Beispiel im mexikanischen Bundesstaat Chiapas ist es in den letzten Jahren zu einer neuen Welle der Militarisierung der Region, zu einem sprunghaften Anstieg der organisierten Kriminalität sowie zu einer förmlichen Explosion paramilitärischer Gewalt gegen indigene Gemeinden und ihre Produktionsflächen gekommen. Als Teil einer staatlichen Strategie der Aufstandsbekämpfung gegenüber der zapatistischen Bewegung vollzieht sich dies unter stillschweigender Billigung der mexikanischen Regierung, wenn nicht gar mit unterschwelliger Unterstützung. Vor Ort ist nicht selten auch die regionale oder lokale Politik in die Geschehnisse verstrickt und befeuert die Eskalation weiter. Beobachter:innen vor Ort sehen Chiapas auch dadurch mehr und mehr an den Rand eines Bürgerkriegs gedrängt. [2] Ein Schutz indigener Produzent:innen durch die mexikanische Regierung ist unter diesen Vorzeichen jedenfalls nicht zu erwarten, im Gegenteil macht die staatliche Politik einen bedeutsamen Teil des Problems aus und müsste zugunsten der Selbstorganisierung und Autonomie lokaler Gemeinschaften zurückgedrängt werden.
V. Folgenreiche Reproduktion kolonialistischer Blickwinkel
Die EU-Verordnung behandelt Indigene als Objekte und nicht als gesellschaftliche Akteur:innen. Sie sind etwas, das vorgeblich geschützt werden soll, ansonsten tauchen sie kaum auf. Diametral zu den Einflussmöglichkeiten großer Lobbyverbände aus Wirtschaft und Politik sind sie zu keinem Zeitpunkt gehört, geschweige denn in die Prozesse des Gesetzgebungsverfahrens einbezogen worden. Folgerichtig bleiben sie auch als Produzent:innen der fraglichen Export- bzw. Importgüter unberücksichtigt. Ihre Bedingungen werden dadurch, wie beschrieben, zu blinden Flecken und verschlechtern sich. Mehr noch: Die vorgesehene „Risikobewertung“ und das dazugehörige „Benchmarking“, anhand derer die Wahrscheinlichkeit einer Konformität mit der Verordnung bemessen werden sollen, tendieren dazu, sich ins Gegenteil von Schutz zu verkehren. So lautet ein Kriterium der „Risikobewertung“, die beim Import in den EU-Raum durch die Einführenden vorzunehmen ist:
- „das Vorhandensein von gebührend begründeten Ansprüchen indigener Völker aufgrund objektiver und überprüfbarer Informationen in Bezug auf die Nutzung des Gebiets oder die Eigentumsverhältnisse in dem Gebiet, das zur Erzeugung des relevanten Rohstoffs genutzt wird“ (Artikel 10, Absatz 2e).
Diese Passage bleibt in dem, worauf sie abzielt, schwammig. Aber „ordnungsgemäß begründete Ansprüche“ sind eben Teil des Problems: Entweder sie können gegen „indigene Völker“ in Stellung gebracht werden oder sie sind genau das, was diese kaum vorlegen können. Dieser Umstand wird in keiner Weise thematisiert. Und sobald die Produzent:innen aus einem Land kommen, für das das Risiko eines Verstoßes gegen die Verordnung als hoch eingestuft wird, wie etwa im Fall von Mexiko zu erwarten, wird eine noch genauere Überprüfung der Bedingungen vor Ort verlangt. Während die eigentlichen Ursachen des Klimawandels woanders liegen, werden so eine generelle Verdachtshaltung gegenüber indigenen Produzent:innen und ggf. ihre verschärfte Überwachung etabliert.
Ihr Wissen und ihre Erfahrungen zu sozial-ökologischen Anbauweisen hingegen finden keinerlei Berücksichtigung. Dabei sind es nicht selten ihre kleinbäuerlichen Produktionszusammenhänge, in denen eine von Profitstreben befreite Nachhaltigkeit ‚von unten‘ praktiziert wird, indem etwa der Kaffeeanbau kleinteilig und diversifiziert unter Schattenbäumen im Sekundärregenwald stattfindet. Weiter gefasst zeigt sich noch ein anderes frappierendes Muster: Indigene Gemeinden sind die ersten, die sich für den Regenwaldschutz und gegen Umweltzerstörung einsetzen – und werden damit alleine gelassen oder sogar als ‚Aufständische‘ bekämpft.
Das gegen massive Proteste und unter Mitwirkung des Militärs durchgesetzte Megaprojekt Tren Maya auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán ist ein eklatantes Beispiel dafür, wie mit Gewalt und zugunsten wirtschaftlicher Interessen Schneisen der Verwüstung durch Ökosysteme geschlagen werden. Haben sich die europäischen Institutionen, als sie die Verordnung zur Entwaldungsfreiheit entworfen haben, eigentlich gefragt, welchen Anteil Unternehmen wie die Deutsche Bahn an diesen Zerstörungen haben und wie diese sanktioniert werden können?
Die Selbstorganisierung indigener Produzent:innen stärken!
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die EU-Verordnung an den Realitäten indigener Bevölkerungsteile vorbei entwickelt worden ist. Zu keinem Zeitpunkt wurden sie einbezogen, stattdessen wird ihnen zusätzliche Bringschuld auferlegt. Ihre sozial-ökologischen Produktionsweisen und ihre Kämpfe für ein selbstbestimmtes Leben geraten weitergehend unter Druck. Um die auch so schon extrem schwierigen Bedingungen kleinbäuerlicher Selbstorganisierung etwa in Landlosenbewegungen oder Kooperativen nicht weiter zu verschärfen, wäre es erforderlich, sie von der Nachweispflicht auszunehmen.
Wir haben nicht die Antworten auf alle Fragen, aber wir sind uns in diesem Zusammenhang sicher: Statt einer in den Verhältnissen des real existierenden Kapitalismus verstrickten Verordnung ‚von oben‘ braucht es ein Zurückdrängen von Strukturen, die durch Gewalt, Ungleichheit und Ausbeutung geprägt sind und diese immer weiter reproduzieren. Dies wiederum geht nicht ohne die Einbeziehung indigener Akteur:innen und ihre möglichst bevormundungsfreie Unterstützung. Dazu halten wir bei Café Libertad am Aufbau persönlicher, solidarischer und vertrauensvoller Beziehungen fest und setzen weiterhin auf die direkte Zusammenarbeit mit indigenen Gemeinden und ihren mitgliederbasierten Kooperativen kleinbäuerlicher Produzent:innen.
Café Libertad Kollektiv, Mai 2024
[1] Ähnliche Befürchtungen sind von wissenschaftlicher Seite auf der Grundlage einer Analyse empirischer Daten in einem Fachartikel in der Zeitschrift Forest Policy and Economics zusammengetragen worden. Der Text befindet sich leider hinter einer Bezahlbarriere, die Zusammenfassung der wesentlichen Punkte kann aber kostenfrei eingesehen werden: https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1389934122001307?via%3Dihub
[2] Ein aktueller Bericht und Einschätzungen indigener Aktivist:innen zur Lage in Chiapas und Mexiko finden sich unter: https://www.cafe-libertad.de/gira-cni-report. Eine detaillierte Analyse zur katastrophalen Entwicklung in Chiapas und dem Zusammenspiel von Gewalteskalation und staatlicher Komplizenschaft hat kürzlich das Menschenrechtszentrum FrayBa vorgelegt: https://www.frayba.org.mx/informe-frayba-chiapas-un-desastre