Solidarität mit zapatistischen und indigenen Gemeinden in Chiapas
Flucht und Vertreibung durch parteinahe paramilitärische Organisationen im südmexikanischen Chiapas
Die Situation in Chiapas hat sich durch parteinahe, paramilitärische Gruppen drastisch verschärft. Am 7. November 2018 sind ca. 1764 indigene Tzotzil-Bewohner*innen aus Chavajebal im südmexikanischen Chiapas durch bewaffnete Gruppen vertrieben worden und auf der Flucht. Kaffeebäuer*innen haben seit Jahresanfang wiederholt von schwierigen Bedingungen und Schüssen auf den Feldern berichtet. Die Erntearbeiten in der betroffenen Region sind weiter massiv bedroht.
Hintergrund sind anhaltende Konflikte um Land und politische Auseinandersetzungen zwischen Anhänger*innen der sozialdemokratisch orientierten Morena-Partei des neuen mexikanischen Präsidenten Obrador und der zuvor fast ununterbrochen regierenden PRI von Peña Nieto.
Aufstandsbekämpfung durch organisierte Kriminalität und politische Korruption
Betroffen von den Auseinandersetzungen sind auch zapatistische Unterstützungsbasen und Mitglieder zapatistischer Kaffeekooperativen. Von Beobachter*innen vor Ort werden eine Einschließung des zapatistischen Caracols Oventic und weitere Vertreibungen und Morde befürchtet. Auch die Kaffeeernten und die Autonomie der zapatistischen Gemeinden wären vor diesem Hintergrund bedroht. Ein Kaffeebauer wurde nach aktuellen Berichten einer Kooperative bei der Arbeit auf dem Feld angeschossen und verletzt. Die Lage ist nach wie vor unübersichtlich.
In der Region wurden in den 1990er Jahren Paramilitärs zur Bekämpfung der zapatistischen Bewegung eingesetzt. Die paramilitärischen Gruppierungen zur Aufstandsbekämpfung waren zeitweise nicht mehr aktiv, wurden jedoch nie entwaffnet. (1)
Die bewaffnete Präsenz der paramilitärischen Gruppen wird von den Regierungsinstitutionen toleriert, da der Ursprung der Gewalt mit verschiedenen parteipolitischen Interessen des parlamentarischen Systems verbunden ist. Zudem existiert in Mexiko eine weitreichende Korruption und Verflechtung von Polizei, Militär und organisierter Kriminalität. Eine Verschärfung der Eskalation droht daher, wenn das Militär in die Region einmarschieren sollte.
Die aktuellen Ereignisse und Landkonflikte in Chiapas
Bereits im September 2017 mussten 5.000 Indigene wegen der zunehmenden Gewalt von paramilitärischen Gruppen ihre Häuser verlassen. Drei Kleinbäuer*innen wurden bei der Arbeit auf ihren Feldern erschossen. Die Gewalt, Drohungen und Einschüchterungen haben seitdem nicht aufgehört. Dennoch sind einige der Vertriebenen inzwischen zu ihren Häusern zurückgekehrt, denn die Lebensbedingungen in den Bergen sind katastrophal. (2)
Nun sind weitere 1.746 Indigene aus der gleichen Region in Chavajebal gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Die Situation eskalierte laut einer unbestätigten Medienmeldung von mexiconewsdaily.com, als örtliche Gemeindebehörden einen Mann aufgrund eines verbalen Streits in einem Landkonflikt für einen Tag in Haft nehmen wollten. Nach zwei Stunden in Haft wurde er jedoch von 30 Bewohner*innen mit Steinen und Knüppeln befreit. (3)
Kurz darauf reisten Gemeindevertreter*innen in die Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez, wo sie einen formellen Antrag auf Entlassung eines an der Befreiungsaktion beteiligten Lehrers aus dem Schuldienst stellten. Diese Gruppe wurde auf dem Rückweg von Bewaffneten überfallen und zwei Menschen der Delegation wurden dabei erschossen. Die teilweise verletzten Überlebenden der überfallenen Gruppe stammen aus einem Wahlbündnis, das mit der Morena-Partei des neuen designierten mexikanischen Präsidenten verbunden ist.
Am 7. November wurden schließlich 18 mutmaßlich an dem Überfall Beteiligte aus dem Umfeld der PRI, aber auch 3 zivile Unterstützer*innen der Zapatistas von Gemeindevertreter*innen festgenommen. (4) Anschließend blockierte eine bewaffnete Gruppe die Straßen, um zu verhindern, dass sie aus der Stadt verlegt werden. Einige Stunden später brach eine den PRI-Mitgliedern nahestehende Gruppe in das Gefängnis ein, befreite die Gefangenen und griff die Stadt an.
Während einer gleichzeitig stattfindenden öffentlichen Gemeindeversammlung mit ungefähr 300 Personen waren eine laute Detonation und Schüsse zu hören. Im Verlauf wurde eine Frau angeschossen und ein Mann getötet. Die Teilnehmer*innen der Versammlung zerstreuten sich daraufhin. Durch die unsichere Lage und die Gefahr weiterer bewaffneter Angriffe wurden in dieser Nacht 1764 Menschen vertrieben, die zu anderen Gemeinden und in die Berge flohen, unter ihnen laut centrodemedioslibres.org auch die zapatistischen Stützpunkte der Gemeinde. (5)
Solidarität und Kritik an der Regierung
Die lokale Regierung leistete im Anschluss lediglich humanitäre Hilfe in der Regionalhauptstadt. Die Vertriebenen in den Bergen und in anderen Gemeinden blieben schutzlos und ohne Versorgung. Der Bundesstaat Chiapas wird von der rechtspopulistischen Grünen Ökologischen Partei (PVEM) regiert. Gouverneur Manuel Velasco Coello und die Abgeordneten der PVEM im Bundesparlament sind kürzlich eine Allianz mit dem designierten mexikanischen Präsidenten Obrador eingegangen
In benachbarten Gemeinden organisierte die Bevölkerung für Geflüchtete eigenständig Schutz und Unterstützung, die Versorgung mit Lebensmitteln und Unterkünfte. Durch die Gefahr von weiteren Morden und Angriffe durch bewaffnete Gruppen ist es derzeit nicht möglich, nach Chavajebal zurückzukehren und sich um die Felder zu kümmern. Durch Militarisierung der Konflikte von seiten verschiedener Parteien der „schlechten Regierung“ droht daher ein Verlust der Ernten und eine Hungersnot in der Gebirgsregion.
Am 11. November dokumentierte die lokale Menschenrechtsorganisation FrayBa, dass es in den Bergen immer noch etwa 500 Vertriebene ohne ausreichende Versorgung, Unterkunft oder Medizin gab. In der Mehrzahl Frauen mit Kindern, unter ihnen vier Schwangere, von denen eine ihr Baby inzwischen auf dem Berg geboren hatte, sowie zwei Menschen von über 80 Jahren.
FrayBa hat eine Eil-Aktion gestartet und verlangt von der mexikanischen Regierung, die Gewalt nicht zu unterstützen, sondern die Morde unabhängig zu untersuchen und die Lage der Vertriebenen als humanitäre Katastrophe anzuerkennen, damit sie Zugang zu Lebensmitteln, Arzneimitteln und Sicherheit bekommen. Alle wurden eingeladen, die Eil-Aktion zu unterzeichnen.(6)
Erste kehren zurück nach Chavajebal
Nach mehrtägigen Gesprächen von Vertreter*innen der autonomen, zapatistischen Gemeinden, der Landesregierung und anderen lokalen Behörden und Konfliktparteien der Region konnten inzwischen 400 vertriebene Familien aus Chavajebal in ihre Häuser zurückkehren. Die Gespräche fanden unter Beteiligung und Vermittlung der Diözese San Cristobal de Las Casas statt, mit dem Ziel eine Einstellung der bewaffneten Auseinandersetzungen zu erreichen.
Die Übereinkunft und Rückkehr der Betroffenen bedeutet keine langfristige Lösung des zugrundeliegenden Konfliktes. Doch konnte bisher eine weitergehende militärische Präsenz und Eskalation verhindert werden und somit die ersten Familien wieder in das soziale Leben ihrer Gemeinschaften zurückkehren. Der Konflikt ist jedoch keinesfalls gelöst. Kleinbäuer*innen berichten seit Anfang des Jahres 2019 wiederholt von Schüssen auf den Feldern. Die Ernte ist weiter bedroht und die Arbeit ist nur sehr eingeschränkt möglich.
Indigene Proteste in Chiapas
Indigene Aktivist*innen fordern weiter ein Ende der Kämpfe auf Basis eines Dialogs und wenden sich gegen eine weitere Vertiefung und Ausbreitung der Gewalt durch das Militär in der Region. (7)
500 vertriebene Indigene hatten sich am 19.11. zu einem etwa 80 Kilometer langen „Marsch der müden Füße“ von San Cristóbal de Las Casas in die Regionalhauptstadt Tuxla Gutiérrez zusammengeschlossen, um das Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen zu fordern. Andere Vetriebene aus Chavajebal haben am 21. November zudem eine Mautstelle bei San Cristóbal besetzt. Die Welle der Gewalt wird in Verbindung mit einer landesweit zunehmenden Präsenz der organisierten Kriminalität in Politik und Gesellschaft gesehen.
Der "Marsch der müden Füße" hat am 24.11. Tuxla erreicht, woraufhin Manuel Velasco Coello den Sitz der Lokalregierung durch Polizei und Militär abgeriegelt hat um Proteste vor Ort zu verhindern. Wie ein auf Facebook veröffentlichtes Video des Menschenrechtszentrums Ku`untik zeigt, wurde eine Demonstration der indigenen Vertriebenen und von solidarischen Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen und einer Hochschule am Wochenende angegriffen. (8) Die Ereignisse belegen eine Verschränkung von Protesten der indigenen Bevölkerung mit anderen sozialen Bewegungen in der Region.
Der gewaltfreie Protestmarsch am Samstag sollte während einer öffentlichen Veranstaltung des lokalen Regierungschefs Öffentlichkeit herstellen. Während der Rede des Politikers hatten Vertriebene aus Chavajebal lautstark protestiert und wiederholt auf ihre dramatische Lage aufmerksam gemacht. Im Anschluss hat die Bundespolizei überraschend Tränengas gegen den bunten Zug aus Famillien eingesetzt. Solidarische Hochschullehrer*innen haben sich gegen weitere Angriffe teilweise mit Stein- und Flaschenwürfen gewehrt und versucht den Demonstrationszug mit Kindern und älteren Menschen zu schützen. Nach noch unbestätigten Berichten gab es verletzte und auch verschwunde Hochschullehrer*innen.
Die indigenen Vertriebenen haben sich für die solidarische Unterstützung der Lehrer*innen bedankt und befinden sich inzwischen als Gäste in der Hochschule von Tuxla. Regierungsvertreter*innen sind dort nicht willkommen. Den Dialog mit der Staatsregierung haben die Vertrieben aufgrund der Angriffe inzwischen ausgesetzt. Die inzwischen heterogene Gruppe, die zu verschiedenen Zeitpunkten aus verschiedenen Gemeinden in Chiapas vertrieben wurde, diskutiert nun, ob sie in Form eines gemeinsamen Marsches weiter in Richtung Mexico City ziehen will oder die Proteste für das Ende der Gewalt durch bewaffnete, paramilitärische Gruppen im Geflecht von Regierungsparteien und organisierter Kriminalität in der Region weiterführen will.
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Café Libertad Kollektiv unterstützt die zapatistischen Gemeinden und alle Betroffenen der Vertreibungen mit Fördergeldern.
Quellen:
1) https://amerika21.de/2018/11/218283/mexiko-chiapas-vertreibung-paramilitaers
2) https://amerika21.de/2018/01/192808/vertriebene-chiapas-mexiko
3) https://mexiconewsdaily.com/news/3-dead-1500-displaced/
4) https://chiapas-support.org/2018/11/18/ezln-bases-of-support-are-in-forced-displacement/
5) https://desinformemonos.org/mas-mil-tsotsiles-desplazados-manera-forzada-chavajebal/
6) https://frayba.org.mx/desplazamiento-forzado-de-1764-personas-de-la-comunidad-tsotsil-de-chavajebal/
7) http://sinfuero.com.mx/gobierno-de-chiapas-no-garantiza-la-seguridad-de-desplazados-frayba/
8) https://www.facebook.com/100015403450385/videos/470902840099827/